Leonardo da Vinci (German Edition)

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Overview

Unehelich, Vegetarier, homosexuell, Linkshänder, leicht ablenkbar und durchaus ketzerisch – Leonardo da Vinci verlangte der Gesellschaft des 15. und 16 Jahrhunderts so manches ab. Und er gab viel zurück. Er schälte das Fleisch von Schädeln, um die Gesichtsphysiognomie zu erkunden, zeichnete die Muskulatur der Lippen nach – und malte erst dann das einzigartige Lächeln der Mona Lisa! Er studierte, wie Lichtstrahlen auf die Hornhaut treffen ‒ und schaffte dadurch die wechselnden Perspektiven in seinem Gemälde "Das Abendmahl". Leonardos lebenslanger Enthusiasmus, Grenzen zu überschreiten, faszinierte bereits die einflussreichen Familien in Florenz und Mailand und gilt bis heute als wegweisendes Rezept für Kreativität und Innovationen. Walter Isaacson erzählt Leonardos Leben in völlig neuer Manier, indem er dessen künstlerisches und wissenschaftliches Wirken zueinander in Bezug setzt. Er zeigt dabei auf, dass Leonardos Genialität auf Fähigkeiten basierte, die jeder von uns in sich trägt und stärken kann: etwa leidenschaftliche Neugier, aufmerksame Beobachtung oder spielerische Einbildungskraft. Leonardo erinnert uns bis heute daran, wie wichtig es ist, nicht nur ständig neues Wissen zu erlangen, sondern dieses auch immer wieder zu hinterfragen, der Fantasie freien Raum zu lassen und abseits festgelegter Muster zu denken – so wie alle großen Geister der Weltgeschichte.


Product Details

ISBN-13: 9783843718844
Publisher: Ullstein Ebooks
Publication date: 10/26/2018
Sold by: Bookwire
Format: eBook
Pages: 752
File size: 63 MB
Note: This product may take a few minutes to download.
Language: German

About the Author

About The Author
Walter Isaacson, geboren 1952 in New Orleans, ist Professor für Geschichte sowie Schriftsteller und einer der weltweit renommiertesten Biographen. Er ist Präsident und CEO des Aspen-Instituts, war CEO von CNN und Redakteur beim Time Magazine. Seine Biografie über Steve Jobs wurde ein Weltbestseller.

Date of Birth:

May 20, 1952

Place of Birth:

New Orleans, LA

Education:

Harvard, B.A. in History and Literature, 1974; Oxford (Rhodes Scholar), M.A. in Philosophy, Politics, & Economics

Read an Excerpt

CHAPTER 1

Kindheit

Vinci, 1452–1464

DA VINCI

Leonardo hatte das große Glück, außerehelich geboren worden zu sein. Andernfalls hätte er, so wie alle legitimen erstgeborenen Söhne seiner Familie in den vorangegangenen fünf Generationen, Notar werden müssen.

Die Wurzeln seiner Familie lassen sich bis ins frühe 14. Jahrhundert zurückverfolgen, als sein Ur-Ur-Urgroßvater Michele in dem etwa 27 Kilometer westlich von Florenz gelegenen toskanischen Städtchen Vinci als Notar praktizierte*. Beim Aufblühen von Handel und Wirtschaft in Italien spielten Notare ein wichtige Rolle, denn sie fassten in lateinischer Sprache geschriebene Handelsverträge, Landverkaufsurkunden, Testamente und andere Rechtsdokumente ab, die sie häufig mit historischen Bezügen und literarischen Ausschmückungen versahen.

Weil Michele ein Notar war, hatte er Anspruch auf den Ehrentitel »Ser« und wurde auf diese Weise zu Ser Michele da Vinci. Sein Sohn und sein Enkel waren als Notare noch erfolgreicher, Letzterer wurde sogar Kanzler in Florenz. Der Nächste in der Linie, Antonio, fiel aus der Reihe. Er verwendete zwar den Ehrentitel Ser und heiratete eine Notarstochter, scheint mit der Familientradition jedoch gebrochen zu haben. Er zog es nämlich vor, von den Einkünften aus dem Landbesitz der Familie zu leben, der von Pächtern bewirtschaftet wurde und einen bescheidenen Ertrag an Wein, Oliven, Öl und Weizen lieferte.

Antonios ehrgeiziger Sohn Piero überwand die Trägheit seines Vaters und war erfolgreich in Pistoia und Pisa tätig, bevor er sich um das Jahr 1451 im Alter von 25 Jahren in Florenz etablierte. Ein Vertrag, den er notariell beglaubigte, gibt als seine Büroadresse den »Palazzo del Podestà«, also das Magistratsgebäude (heute das Museo Nazionale del Bargello) an, der gegenüber dem Palazzo della Signoria, dem Sitz des Stadtparlaments, liegt. Er wurde der Notar vieler Klöster und religiöser Ordensgemeinschaften, der jüdischen Gemeinde von Florenz und zumindest in einem Fall auch der Medici.

Während eines Besuchs in seiner Heimatstadt hatte Piero dann eine Beziehung mit einem unverheirateten Bauernmädchen, aus der im Frühling 1452 ein Sohn hervorging. In seiner selten verwendeten Notarhandschrift erinnerte Antonio, der Großvater des Jungen, ganz unten auf der letzten Seite eines Notizbuchs, das bereits seinem Großvater gehört hatte, an die Geburt des Jungen. »1452: Mir ist ein Enkel geboren worden, der Sohn meines Sohnes Ser Piero, am 15. Tag des April, einem Samstag, um die dritte Nachtstunde [etwa 22 Uhr]. Er trägt den Namen Leonardo.«

Leonardos Mutter wurde weder in Antonios Geburtsnotiz noch in einer anderen Geburts- oder Taufakte der Erwähnung für wert befunden. Aus einem Steuerdokument erfahren wir fünf Jahre später, dass ihr Name Caterina lautete. Ihre Identität war den modernen Gelehrten lange ein Rätsel. Man glaubte, sie sei Mitte zwanzig gewesen, und einige Forscher hielten sie für eine arabische oder chinesische Sklavin. Tatsächlich war sie ein armes, sechzehn Jahre altes Waisenmädchen namens Caterina Lippi aus der Umgebung von Vinci. Der Kunsthistoriker Martin Kemp aus Oxford und der Archivforscher Giuseppe Pallanti aus Florenz haben erst 2017 Beweise dafür vorgelegt, ihren Hintergrund dokumentiert (und damit gezeigt, dass es noch immer etwas über Leonardo zu entdecken gibt).

Im Jahr 1436 als Tochter eines armen Bauern geboren, wurde Caterina mit vierzehn zur Waise. Sie kam mit ihrem kleinen Bruder bei der Großmutter unter, die ein Jahr später, im Jahr 1451, starb. Dazu gezwungen, für sich selbst und ihren Bruder zu sorgen, ging sie im Juli desselben Jahres eine Beziehung mit dem prominenten und wohlhabenden, zu diesem Zeitpunkt vierundzwanzigjährigen Piero da Vinci ein.

Auf eine Heirat bestand nur geringe Aussicht. Obwohl ein früher Biograf sie als »von gutem Blut« beschrieb, stammte Caterina doch aus einer anderen sozialen Schicht. Außerdem war Piero zu diesem Zeitpunkt wohl bereits mit seiner zukünftigen Frau Albiera, der sechzehnjährigen Tochter eines bekannten Florentiner Schuhmachers, verlobt, die im Gegensatz zu Caterina eine standesgemäße Partie darstellte. Piero und Albiera heirateten acht Monate nach Leonardos Geburt. Die für beide Seiten in gesellschaftlicher wie in beruflicher Hinsicht vorteilhafte Eheschließung war vermutlich arrangiert und die Mitgift bereits vor Leonardos Geburt festgelegt worden.

Um den Schein zu wahren und die Dinge zu ordnen, sorgte Piero kurz nach Leonardos Geburt dafür, dass Caterina einen mit der Familie da Vinci verbundenen Bauern und Ziegelbrenner heiratete. Er hieß Antonio di Piero Buti del Vaccha und wurde Accattabriga genannt, was so viel wie »Streithammel« bedeutet (auch wenn er gar keiner gewesen zu sein scheint).

Leonardos Großeltern väterlicherseits und sein Vater besaßen ein Haus mit kleinem Garten direkt an den Burgmauern im Zentrum von Vinci. Dort mag Leonardo geboren sein, auch wenn es durchaus Gründe gibt, die dagegen sprechen. Schließlich war es nicht gerade angemessen, ein schwangeres und anschließend stillendes Bauernmädchen im Haus zu haben, während Ser Piero über die Verlobung mit der Tochter einer prominenten Familie verhandelte, in die er einzuheiraten gedachte. Glaubt man einer von der lokalen Tourismus-Branche kolportierten Legende, dann könnte Leonardos Geburtshaus ebenso gut eine unweit eines Bauernhofs in etwa drei Kilometer Entfernung an der Straße von Vinci nach Anchiano gelegene Kate aus grauen Steinen gewesen sein, in der sich heute ein kleines Leonardo-Museum befindet. Ein Teil dieser Liegenschaften gehörte seit 1412 der Familie von Piero di Malvolto, einem engen Freund der da Vincis. Er war der Pate von Piero da Vinci und wurde 1452 auch der Pate seines Sohnes Leonardo – was durchaus Sinn ergäbe, sollte der Junge auf seinem Besitz geboren worden sein. Die Familien standen sich jedenfalls sehr nah. Leonardos Großvater Antonio war Zeuge eines Vertrages, in dem es um Teile des Besitzes von Piero di Malvolto in Anchiano ging. In den Notizen über den Geschäftsvorgang heißt es, Antonio habe gerade unweit des Hauses Backgammon gespielt, als man ihn um seine Zeugenschaft bat. Piero da Vinci erwarb schließlich in den 1480er Jahren einen Teil dieses Besitzes.

Zurzeit von Leonardos Geburt lebte Piero di Malvoltos siebzigjährige Mutter in Anchiano. Es gab also in fußläufiger Entfernung von Vinci eine alleinstehende Witwe, die wenigstens zwei Generationen der da Vinci-Familie eine vertrauenswürdige Freundin gewesen war. Ihr Bauernhof verfügte zudem über ein halbverfallenes Nebengebäude, das die Familie aus Steuergründen für unbewohnbar erklärt hatte. Diese Kate könnte – wie es die örtliche Überlieferung berichtet – der ideale Ort gewesen sein, um Caterina während ihrer Schwangerschaft zu beherbergen.

Leonardo wurde an einem Samstag geboren und gleich am nächsten Tag vom örtlichen Priester in der Kirche von Vinci getauft. Ungeachtet der Umstände seiner Geburt war die Taufe ein großes öffentliches Ereignis. Er hatte zehn Paten, also weit mehr als üblich, darunter Piero di Malvolto, und zu den Gästen gehörten auch Mitglieder der lokalen Oberschicht. Eine Woche später verließ Piero Caterina und das Kind, um nach Florenz zurückzukehren, denn am darauffolgenden Montag befand er sich in seinem Büro, wo er Unterlagen seiner Klienten notariell beglaubigte.

Leonardo hat uns keinen Kommentar über die Umstände seiner Geburt hinterlassen, aber in seinen Notizbüchern gibt es eine vielsagende Anspielung auf die Gunst, welche die Natur unehelichen Kindern gewährt. »Ein Mann, der den Geschlechtsakt widerstrebend und mit Unbehagen vollzieht, wird jähzornige und unzuverlässige Kinder zeugen«, schreibt er. »Wird der Akt hingegen mit großer Liebe und auf beiderseitigen Wunsch vollzogen, wird das Kind von großer Intelligenz, geistvoll, lebhaft und liebenswert sein.« Man darf wohl annehmen oder zumindest hoffen, dass er sich selbst zur letzteren Kategorie zählte.

Seine Kindheit verbrachte Leonardo in zwei verschiedenen Elternhäusern. Caterina und Accattabriga lebten auf einem kleinen Bauernhof am Stadtrand von Vinci und blieben freundschaftlich mit Piero verbunden. Zwanzig Jahre später arbeitete Accattabriga an einem Brennofen, der von Piero gemietet worden war, und beide dienten einander im Laufe der Jahre mehrfach als Zeugen bei Verträgen und Grundbucheinträgen. In den Jahren nach Leonardos Geburt bekamen Caterina und Accattabriga vier Töchter und einen Sohn. Piero und Albiera dagegen blieben kinderlos. Tatsächlich war Leonardo bereits 24, als Piero zum zweiten Mal Vater wurde. Von da an holte er jedoch auf: Er heiratete insgesamt viermal und bekam elf Kinder.

Da sein Vater sich die meiste Zeit über in Florenz aufhielt und seine Mutter ihre eigene wachsende Familie zu versorgen hatte, lebte Leonardo von seinem fünften Lebensjahr an vorwiegend im Haus der da Vinci-Familie bei seinem mußeliebenden Großvater Antonio und dessen Frau. In der Steuererhebung des Jahres 1457 listete Antonio die mit ihm lebenden Angehörigen auf, zu denen auch sein Enkelsohn gehörte: »Leonardo, Sohn des erwähnten Ser Piero, non legittimo, geboren ihm und Caterina, die nun die Frau Accattabrigas ist.«

Im selben Haushalt lebte auch Pieros jüngster Bruder Francesco, der nur fünfzehn Jahre älter war als sein Neffe Leonardo. Francesco erbte den Hang zum Müßiggang und wurde in einem Steuerdokument ausgerechnet von seinem Vater als jemand beschrieben, der sich in der Gegend herumtreibe und nichts tue. Er wurde Leonardos heißgeliebter Onkel und beizeiten sein Ersatzvater. (In der ersten Ausgabe seiner Biografie begeht Vasari den später korrigierten Fehler, Piero anstatt Francesco als Leonardos Onkel zu bezeichnen.)

EINE GUTE ZEIT FÜR BASTARDE

Wie Leonardos gut besuchte Taufe zeigt, war der Umstand, unehelich geboren worden zu sein, keineswegs ein Grund, sich vor der Öffentlichkeit zu schämen, wie etwa bei Jakob Burckhardt, dem Kulturhistoriker des 19. Jahrhunderts, nachzulesen ist. Besonders in der herrschenden aristokratischen Klasse war Illegitimität kein Hindernis. Pius II., der amtierende Papst zurzeit von Leonardos Geburt, berichtete Folgendes über einen Besuch in Ferrara, wo unter den Gästen bei seiner Willkommensfeier auch sieben – allesamt uneheliche – Prinzen der herrschenden Este-Familie zugegen waren, darunter der regierende Herzog. »Es ist eine ungewöhnliche Eigenschaft dieser Familie, dass kein legitimer Erbe jemals das Prinzipat erlangte; den Söhnen ihrer Mätressen war wahrlich mehr Glück beschieden als denen ihrer Ehefrauen.« (Pius selbst war Vater zweier unehelicher Kinder.) Ebenfalls während Leonardos Lebenszeit hatte Papst Alexander VI. eine Vielzahl von Mätressen und illegitimen Kindern. Eines von ihnen war Cesare Borgia, der später Kardinal, Befehlshaber der päpstlichen Truppen, ein Arbeitgeber Leonardos und Gegenstand von Machiavellis Der Fürst wurde.

Bei den Mitgliedern der Mittelschicht war die uneheliche Geburt allerdings nicht in gleicher Weise akzeptiert. Um ihre neuen Stände zu schützen, gründeten Kaufleute und Handwerker Gilden und Zünfte mit bisweilen etwas eingeengten Moralvorstellungen. Zwar duldeten einige dieser Zusammenschlüsse die unehelichen Söhne ihrer Mitglieder, doch für die Arte dei Giudici e Notai, die ehrwürdige (1197 gegründete) Gilde der Richter und Notare, zu der Leonardos Vater gehörte, galt dies nicht. »Der Notar war ein beeideter Zeuge und Skribent«, schreibt Thomas Kuehn in Illegitimacy in Renaissance Florence. »Seine Vertrauenswürdigkeit musste über jeden Zweifel erhaben sein und er musste dem Mainstream der Gesellschaft angehören.«

Diese Einschränkungen hatten einen Vorteil: Ihre uneheliche Geburt erlaubte es einfallsreichen und freigeistigen jungen Männern, sich in einer Zeit zu entfalten, in der Kreativität zunehmend belohnt wurde. Zu den unehelich geborenen Poeten, Malern und Kunsthandwerkern gehörten Petrarca, Boccaccio, Lorenzo Ghiberti, Filippo Lippi, sein Sohn Filippino, Leon Batista Alberti – und natürlich Leonardo. Freilich war es so, dass ein Bastard zu sein das Leben auch verkomplizierte, denn es machte die Betroffenen nicht nur zu Außenseitern, sondern erzeugte darüber hinaus eine Statusambiguität. »Das Problem mit Bastarden bestand darin, dass sie zwar Teil der Familie waren, aber nicht vollständig dazugehörten«, schreibt Kuehn. Das half einigen dabei – oder zwang sie dazu –, mehr Risiko- und Improvisationsfreude an den Tag zu legen.

Obwohl Mitglied einer Mittelschichtfamilie, blieb Leonardo dennoch von ihr separiert. Wie so viele Schriftsteller und Künstler der Epoche wuchs er mit dem Gefühl auf, ein Teil der Welt und zugleich von ihr losgelöst zu sein. Dieser Schwebezustand hatte auch Auswirkungen auf das Erbrecht. Eine Mischung aus Gesetzeskonflikten und einander widersprechenden Präzedenzfällen führte zu einer Unklarheit darüber, ob ein unehelicher Sohn Erbe sein konnte. Das musste auch Leonardo viele Jahre später im Zuge von Rechtsstreitigkeiten mit seinen Stiefbrüdern feststellen. »Der Umgang mit solchen Mehrdeutigkeiten war kennzeichnend für das Leben in einem Renaissance-Stadtstaat«, erklärt Kuehn. »Und sie trugen zu der viel gerühmten künstlerischen und humanistischen Kreativität in Städten wie Florenz bei.«

Weil die Gilde der Florentiner Notare den non legittimi verschlossen blieb, konnte Leonardo von der für seine Familie charakteristischen Gewohnheit profitieren, sich alles zu notieren, war jedoch frei darin, seinen eigenen schöpferischen Interessen nachzugehen. Und das war sein Glück, denn er hätte einen lausigen Notar abgegeben. Er langweilte sich viel zu schnell und ließ sich leicht ablenken, sobald eine Sache ihren kreativen Aspekt verloren hatte und zur Routine wurde.

SCHÜLER DER ERFAHRUNG

Ein uneheliches Kind zu sein hatte für Leonardo noch einen weiteren Vorteil: Er musste auf keine der »Lateinschulen« gehen, an denen aufstrebende Handwerker und Kaufleute in der Frührenaissance in alten Sprachen und Geisteswissenschaften unterrichtet wurden. Abgesehen von einer Grundausbildung in Wirtschaftsmathematik in einer sogenannten »Abakus-Schule« war Leonardo Autodidakt. Der Umstand, ein »Mann ohne Gelehrsamkeit« zu sein, wie er selbst es mit gewisser Ironie formulierte, schien ihm häufig Unbehagen zu bereiten. Andererseits war er stolz darauf, dass das Fehlen einer formalen Schulausbildung es ihm erlaubte, aus Versuch und Praxis zu lernen. »Leonardo da Vinci, discepolo della Sperientia«, beschrieb er sich selbst einmal – »Schüler der Erfahrung«. Diese freigeistige Haltung bewahrte ihn davor, ein Akolyth traditioneller Denkweisen zu werden. In seinen Notizbüchern feuerte er eine Breitseite auf jene – wie er sie nannte – aufgeblasenen Narren ab, die ihn dafür verunglimpften:

Ich weiß sehr wohl, dass so mancher eitle Fant, zumal ich kein Gelehrter bin, glauben wird, er könne mich mit Recht tadeln, indem er geltend macht, ich sei ein Mann ohne Gelehrsamkeit. Törichte Leute! ( ...) Diejenigen, die sich mit fremden Leistungen schmücken, wollen die meinigen nicht gelten lassen ( ...). Sie werden behaupten, ich könne mangels Gelehrsamkeit das, was ich behandeln will, nicht richtig sagen. Nun, wissen sie denn nicht, dass meine Lehren nicht so sehr aus den Worten anderer gezogen werden, als aus der Erfahrung, die doch die Lehrmeisterin derer war, die gut geschrieben haben?

Auf diese Weise blieb Leonardo von verstaubter Scholastik und mittelalterlichen Dogmen verschont, die sich seit dem Niedergang der Wissenschaften und des eigenständigen Denkens angesammelt hatten. Sein mangelnder Respekt vor Autoritäten und seine Bereitschaft, überliefertes Wissen in Frage zu stellen, führten ihn bei seinem Versuch, die Natur zu verstehen, zu einer empirischen Herangehensweise, welche die ein Jahrhundert später von Bacon und Galileo entwickelte wissenschaftliche Methode in gewisser Weise vorwegnahm. Seine Methode wurzelte im Experiment, in der Neugier und der Fähigkeit, über Phänomene zu staunen, für die wir uns nur noch selten begeistern, sobald wir unsere Kindheit hinter uns gelassen haben.

Hinzu kamen Leonardos ausgeprägte Beobachtungsgabe und sein starkes Bedürfnis, die Wunder der Natur zu ergründen. Er stachelte sich selbst dazu an, Formen und Schatten mit einer erstaunlichen Genauigkeit wahrzunehmen. Besonders gut konnte er Bewegungen erkennen, ganz gleich, ob es sich um den Flügelschlag eines Vogels oder die Gefühlsregungen im Gesicht eines Menschen handelte. Auf dieser Grundlage ersann er Experimente, von denen er einige nur in Gedanken, andere in Form von Zeichnungen und einige wenige mit realen Objekten ausführte. »Bevor ich fortfahre, mache ich erst ein paar Experimente«, verkündete er, »weil ich zunächst Erfahrungswerte sammeln und dann mit Argumenten zeigen will, warum es auf solche Weise geschehen muss.«

(Continues…)


Excerpted from "Leonardo da Vinci"
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Copyright © 2017 Walter Isaacson.
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